Das Gefährliche an den „kleinen“ Atomsprengköpfen, deren Entwicklung das Pentagon in seinem Strategiepapier vorgestellt hat, ist die geringere Selbstabschreckung bei den Entscheidungsträgern. Die Hemmschwelle, sie einzusetzen, ist niedriger und die Gefahr eines Krieges dadurch größer. Das sagt Rüstungsexperte Otfried Nassauer im Sputnik-Interview.
US-Präsident Donald Trump hat sich vergangene Woche vom Pentagon die Nuclear Posture Review, einen Bericht zur künftigen Nuklearstrategie des Landes, vorlegen lassen. An sich ist das nichts Ungewöhnliches – jeder neue Präsident der Vereinigten Staaten ist per Gesetz verpflichtet, ein Jahr nach seinem Amtsantritt dem Kongress eine solche Blaupause für seine Nuklearpolitik vorzulegen. Was die Beobachter jedoch hellhörig werden lässt, ist der in dem Bericht formulierte Plan, neue Atomsprengköpfe zu entwickeln, die als Abschreckung gegenüber Russland dienen sollen. Besorgt fragen auch deutsche Medien: Droht ein neues Wettrüsten?
Bei den angedachten Atomwaffen soll es sich um sogenannte Mini-Nukes handeln, also Waffen mit vergleichsweise geringer Sprengkraft. Gering bedeutet in diesem Zusammenhang eine Sprengkraft von unter 20 Kilotonnen.
„Die Idee, mehr atomare Sprengköpfe von variabler oder kleiner Sprengkraft zu haben, stammt aus älteren Jahrzehnten. Es gab immer schon Diskussionen über die Frage, ob große Atomraketen mit riesengroßer Sprengkraft nicht zu einer Selbstabschreckung bei denjenigen, die über einen Einsatz entscheiden, führen würden. Der Vorschlag, Atomsprengköpfe von kleinerer Sprengkraft einzusetzen, ist von dem Risiko begleitet, dass die Schwelle zu einem Einsatz geringer wird, weil die Selbstabschreckung für diejenigen, die darüber entscheiden, auch geringer geworden ist. Genau da setzen die Kritiker an und sagen: Das führt doch eher dazu, dass die Gefahr eines Krieges größer wird statt kleiner“, erklärt Otfried Nassauer, Rüstungsexperte am Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit.
„Eskalieren, um zu deeskalieren“: Russland im Visier
Neben Nordkorea und China wird als Begründung für die Notwendigkeit einer Nachrüstung die Bedrohung durch Russland genannt. Doch was genau wird Russland vorgeworfen?
Zum einen seien die Russen nicht bereit, ihre taktischen Atomwaffen durch Rüstungskontrolle weiter zu begrenzen, so Nassauer. Hinzu komme der amerikanische Vorwurf, Russland unterlaufe den INF-Vertrag durch die Stationierung von verbotenen Waffen. „ Es ist unklar, worin genau dieser Verstoß bestehen soll, aber diese beiden Argumente greifen ineinander und sind teilweise Ursache füreinander.“
Zusätzlich hätten die Amerikaner die russische Militärdoktrin auf eine ganz bestimmte Art und Weise interpretiert:
„Sie sagen, Russlands Potenzial besteht im Gegensatz zu unserem eigenen nicht nur aus verschiedenen Atomwaffen im strategischen Kontext, sondern auch aus relativ vielen substrategischen oder taktischen Atomwaffen. Deswegen kann Russland in einem regional begrenzten Krieg möglicherweise taktische Atomwaffen einsetzen, wofür wir Amerikaner nur sehr begrenzte Möglichkeiten hätten, nämlich die Atomwaffen in Europa. Die Russen könnten denken: Wir können regional begrenzt ein paar kleinere Atomwaffen einsetzen und die Amerikaner sind durch ihre Selbstabschreckung davon abgeschreckt, mit großen strategischen Atomwaffen zu antworten.“
Diese Strategie nennen die Amerikaner ‚Escalate to deescalate‘. Nassauer sagt, er finde eine solche Strategie zumindest in der russischen Militärdoktrin nicht wieder.
Wie gefährlich sind Mini-Nukes?Über potentielle Ziele, die mit den neuen Atomsprengköpfen beschossen werden könnten, stehe im Bericht des Pentagons praktisch nichts, so der Experte weiter. Man könne aber davon ausgehen, dass die Sprengköpfe auf seegestützten Langstreckenraketen untergebracht würden. Diese besäßen in der Regel „Zwei-Phasen-Sprengköpfe“. Durch Abkopplung des zweiten, stärkeren Sprengsatzes ließe sich sozusagen ein Atomsprengkopf „light“ erzeugen.
„Dann bleibt nur der Zündsprengkopf drin, und dann ist die Sprengkraft so stark reduziert, dass man unterhalb der Hiroshima-Bombe bleiben würde. Wir wissen aber alle, dass auch die Hiroshima-Bombe Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende Tote und Verletze zur Folge hatte. Also kann auch ein relativ kleiner Sprengkörper enorme Auswirkungen haben.“
Der Begriff „Mini-Nukes“ sei in dem Zusammenhang irreführend, weil damit ursprünglich Sprengköpfe mit einer Sprengkraft von unter ein oder zwei Kilotonnen gemeint gewesen seien. Bei den vom Pentagon angedachten Sprengköpfen liege die Sprengkraft jedoch bei etlichen Kilotonnen, verdeutlicht Nassauer.
Droht ein Rüstungswettlauf wie im Kalten Krieg?
Wie zu erwarten war, ist das amerikanische Strategiepapier zur Modernisierung des Atomwaffenarsenals in China und Russland mit Unverständnis aufgenommen worden. Vonseiten des russischen Außenministeriums hieß es, das Papier aus dem Pentagon trage einen „kriegerischen und antirussischen Charakter“ und bediene „antirussische Klischees“. Auch Peking zeigte sich wenig begeistert und forderte die USA auf, ihre „Mentalität des Kalten Krieges“ abzulegen.
Otfried Nassauer hält es für möglich, dass über verbalen Protest hinaus auch praktische Schritte in Form eigener Modernisierungsmaßnahmen in China und Russland folgen könnten. Dies würde dann wiederum neue amerikanische Reaktionen hervorrufen.
„Es gibt durchaus die Gefahr, dass es eine neue Diskussion über einen Rüstungswettlauf gibt und dass mittelfristig die einen solchen Wettlauf behindernden Verträge, wie der INF-Vertrag, außer Kraft gesetzt werden. Wenn man etwas daran ändern will, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als konstruktiv und intensiv an Möglichkeiten nuklearer Rüstungskontrolle und nuklearer Abrüstung zu arbeiten und sich Gedanken über einen neuen Vertrag zu machen und über eine Verlängerung des alten. Man muss schauen, ob man das in den letzten Jahren verlorengegangene Vertrauen wieder herstellen kann, indem man beispielsweise Rüstungskontrolle wieder als vertrauensbildende Maßnahme betont. Im Moment sehen die Chancen relativ klein aus, aber das heißt nicht, dass man sie nicht wieder größer machen kann.“
Das komplette Interview mit Otfried Nassauer zum Nachhören:
--
Halbe Lügen kriegen Junge,
halbe Wahrheit stirbt dahin.
Walter Mossmann