Materialistischer Kulturprotestantismus
Die kirchlichen Groß- und Unterorganisationen standen nach 1945 in ihrer ideologischen Ausrichtung durch Leitungsorgane und theologische Schulung (systematische und dogmatische Universi-tätstheologie ) in der Tradition der dialektischen Theologie. Als Begriff der ersten großen Krise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft 1918 bewährte sie sich mit ihrer Dichotomie von bekenntnis-treuer Gemeinde und Gesellschaft besonders dann, als der Thron-und Altarprotestantismus in seiner Verquickung mit dem Faschismus in dessen Apokalypse mit unterging.
Sie geriet in die Krise gegenüber einer demokratischen Gesellschaft, zu deren Grundlage der antifa-schistische Konsens gehörte. Was hatte eine Barmer Erklärung in einer Gesellschaft zu sagen, deren Verfassung die zentralen Inhalte der biblischen Verkündigung beinhaltete? Artikel 1 GG ist identisch mit Psalm 8! In der Ökumene stießen deutsche Theologen auf einen pluralistischen Protestantismus, der unter angelsächsischer Hegemonie mit der dialektischen Dichotomie von Kirche und Gesellschaft nichts anfangen konnte.
Auch zeigte sich bald, dass die Bekenntnisposition gegen den Nationalsozialismus eine unzulängliche Faschismuskritik war. Als Reaktion auf vulgäre Religionskritik von rechts und links hatte sie einen blinden Fleck durch ihren Antimaterialismus und Antikommunismus. Anfang der 60er Jahre setzt in kirchlichen Gruppen und an Universitäten die Rezeption des Materialismus und eine Rückbesinnung auf die linkshegelianischen Traditionen ein. Im bald einsetzenden antikapitalistisch- gesellschaftskri-tischen Aufbruch entsteht ein „materialistischer Kulturprotestantimus“. Er ist vielfältig und global-ökumenisch und artikuliert sich in einer unübersehbaren Zahl von Konzepten, theoretischen Selbstdarstellungen und Aktivitäten. Austauschstudenten und –professoren, die in dieser Zeit z.B. in den USA waren, kamen zurück voller Anregungen und begeisternden Erlebnissen.
In Deutschland trafen sich 1968/69 in den Celler Konferenzen Aktivisten dieser Bewegung, so dass die Papiere der Konferenzen einen Teil der entstehenden Positionen bündeln und dokumentieren.
Die materialistische Sinnfrage
Der materialistische Kulturprotestantismus bejaht den Säkularismus und steht so in der Tradition der Rationalisten, die Anfang des 19.Jahrhunderts im Vorfeld der bürgerlichen Revolution das kirchliche Leben in weiten Teilen beeinflussten. Im Hintertaunus gab es damals einen Pfarrer, der war gleichzeitig für eine evang. und für eine kath.Gemeinde angestellt. Er hielt sonntags um 10 Uhr einen evang.Gottesdienst in Weilmünster und um 14 Uhr einen kath. im nahegelegenen Münster. Die nachhaltigste Wirkung hatten Aufklärung und Rationalismus in der Bildung von preußischer und vor allem nassauischer Union, dem Rahmen für die bis heute unangestastete landeskirchliche kirchlich-soziale Großorganisation, einem nicht unbedeutenden Teil gesellschaftlicher Verfasstheit deutscher Wirklichkeit.
Neupietismus und nationalistische Reaktion führten zum rechtshegelianischen Kulturprotestantimus. Die revolutionären und aufkommenden proletarischen Bewegungen wurden aus der großkirchlichen Bindung abgedrängt, die Spaltung in kirchen- und religionsfeindlichen Materialismus einerseits und bürgerliche Restauration andererseits kulminierte in dem tödlichen Kampf der beiden Modernisierungsideologien der Industriegesellschaft: Faschismus und Stalinismus und in ihrer gemeinsamen Katastrophe.
Nach dieser Geschichte erübrigte sich die Frage, warum große Teile des Volkes ihre Bindung an die kirchliche Organisation lösten, austraten bzw. die zentralen Veranstaltungen, wie Gottesdienst u.ä mit Desinteresse quittierten. Inspiriert durch die marxistische Religionskritik wurde man sich in der theologischen Diskussion ab den späten 1960eer Jahren („68“ff) der Bedeutungslosigkeit und Sinnlosigkeit der „Wort“-Theologie (die nach dem Ende des deutschen Faschismus dominant geworden war) als auch der Konsensideologie der kirchlichen Großorganisation bewußt.
Dann tauchte die materialistische Sinnfrage auf: was ist am kirchlichen und theologischen Handeln gesellschaftlich relevant? Es muss doch einen Grund geben dafür, weshalb durch all die Irrungen und Wirrungen deutscher Geschichte und ihre Katastrophen das Interesse von 80-90% der Bevölkerung an der Kirche nicht zu erschüttern ist. Franz Walter hat sich diese Frage am 17.12.2012 in einem Beitrag für die FR auch gestellt und eine Antwort gegeben, die mit den Dokumenten der Celler Konfe-renz deckungsgleich ist:
1. An den Krisenpunkten des individuellen und gesellschaftlichen Lebens strukturiert der Mensch die drohende Krise in Gestalt soziodramatischer Verarbeitungsriten. Das Gespräch reicht dabei nicht aus, weil vieles auszudrücken ist, das nicht in Worte gefasst werden kann, sondern soziodramatisch dargestellt werden muss. Das Drama des Rituals vermittelt Sinn und Bedeutung, weil es die Autorität der Überlieferung und der tradierten Erfahrungen und Ratschläge der Vorfahren hat und vom gesellschaftlichen Konsens getragen und legitimiert ist. Der Pfarrer ist in den Ritualen Moderator und hilft in Worte zu fassen, was schwer auszudrücken ist. Er soll nichts verkündigen, sondern soll helfen, die Worte zu finden, die die Betroffenen als die ihren erkennen.
2. Vom kirchlichen Teil der Gesellschaft erwarten die Menschen in der Gesellschaft Mitarbeit bei der Gestaltung der Qualität sozialer Strukturen und der Abwehr von deren Bedrohungen. Es ist die nicht ganz aufgegebene Hoffnung auf das Reich Gottes auf Erden, einer Wirklichkeit, in der nicht nur jeder frei ist, sondern wo Gräben zwischen Arm und Reich, zwischen Ausgrenzung und Wagenburg, zwischen behindert und privilegiert verschwunden sind.
Jeder nach seiner Fasson
Neben den säkularen Formen des materialistischen Kulturprotestantismus gibt es eine Vielfalt religiöser Bewusstseinsformen. Für die muss gelten: Pluralität in gegenseitiger Toleranz, Beliebigkeit und Wissen um ihre Instabilität.
Die kirchliche-soziale Großorganisation ist sinnvoll für ihre gesellschaftlich relevanten Funktionen. Sie darf aber nicht dominiert und inhaltlich bestimmt werden durch Subkulturen (z.B. die sonntäglichen Gottesdienstbesucher) wie zur Zeit noch. Sie muss weltanschaulich neutral sein und den Rahmen für tolerantes Miteinander der Pluralität aller Gruppierungen geben. „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden“. Das religiöse Bewusstsein ist individuell und muss beliebig bleiben.
Beim Ausdruck religiösen Bewusstseins ist die Frage nach der Wahrheit oder der Übereinstimmung mit der dogmatisch und kirch3nleitend auftretenden „Rechten Lehre“ unzulässig. Entscheidend ist nur, ob die religiöse Ansicht ein authentischer Ausdruck dafür ist, wie die Person ihre Geschichte, aktuelle Situation und Zukunft in den von ihr erkannten Sinnzusammenhang stellt. Das gilt auch für ein krankes Bewusstsein. Auch der Psychotiker kann in seinem Wahn authentisch sein. Er kann nur dann am gesellschaftlichen Miteinander beteiligt werden, wenn man ihn in seiner authentischen Sinndeutung toleriert.
Schließlich soll noch darauf hingewiesen werden, dass religiöses Bewusstsein instabil ist. Jeder Mensch gibt sich in den verschiedenen Lebensphasen verschiedenen weltanschaulichen Ausdruck. Der Satz, man soll seiner Weltanschauung immer treu sein, ist sehr dumm. Zu jeder Lebensphase gehört eine andere Weltanschauung.
Zu meiner Vita: geb.1940, Theologiestudium, u.a.66/67 in den USA, ab 1970 Gemeindepfarrer in Weilmünster und Krankenhauspfarrer am psychiatrischen Krankenhaus dort, 1973 aus dem kirchl.Dienst entlassen, danach Diplom als Sozialarbeiter und dann Beschäftigung in verschiedenen Behinderteneinrichtungen. Seit 1983 einen eigenen Betrieb gegründet, die Trommershäuser-Reha: unterschiedliche Formen von Wohn- und Lebensorganisation erwachsener psychisch Behinderter in Dornburg-Dorndorf und Runkel. Im unteren Westerwald bei Limburg a.d.Lahn